Die Zukunft der Pflege

Die Zukunft der Pflege ist ganzheitliche Pflege

Die Zukunft der Pflege wird von vielen Faktoren beeinflusst, darunter die demografische Entwicklung, technologische Innovationen und gesellschaftliche Entwicklungen. Es wird mit ziemlicher Sicherheit eine höhere Nachfrage nach Pflegekräften geben, da die Bevölkerung älter wird und gleichzeitig der Bedarf an qualitativ hochwertiger Pflege steigt. Auch zeigt sich, dass die Menschen trotz medizinischer Fortschritte nicht gesünder sind. Unser Lebenswandel ist ein entscheidender Faktor dafür.

Technologische Entwicklungen wie Robotik und künstliche Intelligenz werden zunehmend in der Pflege eingesetzt werden, in der Hoffnung, so den Pflegeprozess zu unterstützen und die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte reduzieren zu können. Dies birgt sowohl Chancen als auch Risiken, die gut durchdacht und kritisch hinterfragt werden müssen. Wir pflegen Menschen, die das Recht haben, menschlich behandelt zu werden. Jeder von uns wünscht sich eine menschliche Behandlung für sich selbst und für seine Liebsten. Und jeder von uns kann bereits morgen selbst auf Pflege angewiesen sein.

Auch Telemedizin, Telepflege und digitale Gesundheitsdienstleistungen werden eine größere Rolle spielen und haben großes Potential, bestehende Strukturen und Ressourcen zu entlasten. Hier gilt es, die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, gleichzeitig ihre Nachteile zu erkennen und dort gezielt und somit ressourcenschonend anzusetzen. Der vorherrschende Pflegemangel fordert neue Wege! Dabei muss jedoch stets der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen! Es gilt den Menschen in seiner Ganzheit zu erkennen und somit auch ganzheitlich zu pflegen.

Ganzheitliche Pflege bedeutet in meinen Augen nicht nur den Menschen, der der Pflege bedarf, zu erkennen. „Ich pflege als die die ich bin“ pflegte bereits Schwester Liliane Juchli zu sagen. Somit ist es auch wichtig zu erkennen, wer ICH denn wirklich BIN, wo meine eigenen Bedürfnisse liegen und wo meine Grenzen. Das selbstlose Dienen, von dem so oft gesprochen wird, darf nicht mit Selbstaufopferung verwechselt werden. Selbstlos zu dienen bedeutet viel mehr, das eigene Ego zu überwinden und dem Leben an sich dienlich zu sein und es zu fördern. Um anderen Lebewesen aus unserer vollen Kraft heraus dienlich sein zu können, sind wir auch immer wieder gefordert uns selbst liebevoll zu pflegen.

Der Gedanke an die Zukunft der Pflege, bewegt einiges in mir. Wie wird diese Zukunft wohl aussehen? Bei dieser Frage entstehen in mir – und wahrscheinlich in vielen anderen auch – verschiedene Bilder. Wünsche, Hoffnungen, Visionen, Ängste, Sorgen… all dies formt unser eigenes, persönliches Bild. Unsere Erfahrungen beeinflussen unsere Denkweise. Unser Denken beeinflusst unser Handeln und unser Handeln beeinflusst unsere Zukunft. Somit ist es auch wichtig, uns im Klaren darüber zu sein, welche Macht unsere Denkweise hat. Sie ist entscheidend dabei, wie sich die Zukunft entwickeln wird.

Ich durfte in meiner Zeit in der Pflegepraxis vieles lernen und erfahren. Ich durfte mich selbst besser kennen lernen, mir über meine Werte und meine Weltanschauung bewusst werden. Und ich habe mittlerweile für mich erkannt, dass ich damals sehr wohl die richtige Berufswahl getroffen habe. Eine Zeit lang habe ich daran gezweifelt. Die „Rahmenbedingungen“ haben es für mich schwierig gemacht, das Gute im Pflegeberuf zu sehen. Irgendwann wurde mir jedoch bewusst, dass nicht der Beruf, die Tätigkeit oder irgendwelche äußeren Umstände schlecht sind. Meine Bewertung und das, was ich daraus mache, lässt etwas erst gut oder schlecht erscheinen.

Ich durfte durch meine Berufswahl so unendlich viel Schönes und Wertvolles erleben! Ich durfte Menschen in ihren zerbrechlichsten Momenten begleiten, ihnen zuhören, von ihnen lernen und sie unterstützen. Ich durfte dabei sein, wenn Menschen gestärkt aus einer Krise hervortraten. Ich durfte Menschen in der letzten Lebensphase die Hand halten. Ich habe die Kraft der Hoffnung gesehen und die Kraft der Liebe. Ich habe auch viel Leidvolles miterlebt. Wut, Zorn, Angst, Scham, Kränkung – Emotionen, die die meisten von uns nicht gerne empfinden. Und doch verspüren wir sie so oft. Zu oft, um sie einfach ignorieren zu können. Wir sollten uns damit auseinander setzten und erkennen, was wir aus diesen Situationen lernen können. Wie wir daran wachsen können, anstatt daran zu zerbrechen. Wie wir gestärkt aus einer Krise hervortreten können.

Schwester Liliane Juchli dürfte wohl allen, die in der Pflege tätig sind, ein Begriff sein. Denn ihre Arbeit (und auch die Arbeit von anderen namenhaften Persönlichkeiten) bietet heute noch die Basis unseres Berufsalltages. Sie gilt als Pionierin in der Pflege. Eines ihrer Werke, beinhaltet das Pflegemodell der zwölf Aktivitäten des täglichen Lebens. Nach diesem Modell arbeitet die Pflege nach wie vor, wenn es darum geht, den Pflegebedarf zu erheben und zu erkennen, was der Mensch gerade braucht.

Juchli beschäftigte sich bereits 1988 bei einem Kongress in Davos mit dem Thema: „Ganzheitliche Pflege – Utopie oder Wirklichkeit?“ Ich möchte einige Worte von ihr zitieren:

„Ganzheit darf nicht verwechselt werden mit etwas Abgeschlossenem, Ganzheit hat viel mehr zu tun mit

  • Denken in übergreifenden Zusammenhängen;
  • Integration der Vielfalt und Mannigfaltigkeit;
  • Experimentieren und Forschen nach neuen Ansätzen des Lebens und Pflegens.

Ganzheitliche Pflege ist nichts Neues, nichts Umwälzendes – es sei denn eine Herausforderung, eine Chance, ja eine Hoffnung! […] Hoffnung, die uns allein helfen kann, die Zukunft – trotz aller Bedrohungen – zu wagen. Hoffnung – wo sie wirklich Hoffnung ist – ist der Ausdruck des Lebens, das trotz allem und immer wieder neues Werden hervorbringt und darin auch Überraschungen und grenzenlose Möglichkeiten bereithält. „Hoffnung ist die Leidenschaft für das Mögliche“, so formulierte es der zeitgenössische Prophet der Hoffnung, Wiliam Sloane Coffin, in seinem Buch „Once to Every man“ (Einmal für jeden Menschen). Diese Aussage hat mich berührt. Ich war und bin betroffen von der Art und Weise, mit der der Autor sich mit den entscheidenden Anliegen unserer Zeit auseinandersetzt. Mutig stellt er sich den Nöten – wir würden sagen: dem Notstand – mit allen Leiden, die ihn das Leben auch kostet, und er erlaubt dieser Leidenschaft (das Leiden schwingt in dem Wort ja mit), dem Leben die Hoffnung abzugewinnen.  

Ich teile diese seine Erfahrung – auch bezogen auf die Pflege: Die Zeit selbst beweist es uns – Schritt für Schritt -, wenn wir uns selbst darin Schrittchen für Schrittchen einbringen. Indem wir voranschreiten, indem wir weiterdenken, die Ideen entwickeln und umsetzten, d.h. sie zu unseren eigenen machen, werden die Grenzen des Möglichen weiter und weiter, bis hin in den Bereich des heute noch scheinbar Unmöglichen, hinausgeschoben. Früher oder später erkennen wir, dass das Mögliche keine festen Grenzen hat – dass das, was wir für eine Grenze hielten, sich als Horizont herausstellt. Und wie jeder Horizont weicht er zurück, während wir darauf zugehen. Diese Entdeckungsfahrt, die ihren Ursprung in der Leidenschaft für das Mögliche hat, möchte ich der Frage, dem Suchen nach ganzheitlicher Pflege zugrunde legen.

In der Leidenschaft für das Mögliche liegen Offenheit und Engagement, liegt auch eine vorläufige Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Verwirklichung der ganzheitlichen Pflege. Und es liegt darin die Zukunft, sowohl in ihrer Herausforderung wie in ihrer Chance.

Die blosse Erwartung dessen, was wir verlangen und uns wünschen, kann zu einem Alptraum werden, ja kann uns krankmachen. Das Burnout-Symptom oder der Pflegenotstand sind typische Symptome dafür.“ (Quelle: L.Juchli. (1993): „Ganzheitliche Pflege, Vision oder Wirklichkeit“. Recom Verlag, Basel/Eberswalde. S23ff.)

Ihre Worte scheinen heute mehr Gültigkeit zu haben denn je. Und doch hat sie es zu einer anderen Zeit geschrieben. Um genau zu sein, sogar noch vor „meiner Zeit“. Als Schwester Juchli ihre Thesen und Modelle aufstellte und weitergab, war ich noch nicht einmal geboren. Und dennoch habe ich das Gefühl, die Worte wurden aus heutiger Sicht geschrieben. Und ich denke, ich bin nicht die einzige „Schwester“ die so denkt.

Auch die Wandlung der allgemeinen Bezeichnung unseres Berufsstandes wird hier ersichtlich. Damals wurden wir als „Schwestern“ bezeichnet. Seit ich mich erinnern kann, werden wir als „Krankenschwestern“ betitelt und bezeichnen uns oft auch selbst als solche. Die offizielle Bezeichnung lautet schon lange „Gesundheits- und Krankenpflege“. Hier kommt wieder die Kraft der Gedanken zum Ausdruck und wo unser Fokus liegt, nämlich auf der Krankheit. Doch wir müssen endlich wieder los lösen von der bloßen Behandlung von Krankheit, hin zur Erhaltung, Förderung und Erlangung von Gesundheit. Wir lernen in der Ausbildung so vieles über die Pathologie, doch viel entscheidender ist in meinen Augen die Salutogenese. Schlussendlich gibt es unzählige Dinge, die einen Menschen krank machen können. Seinen es Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten oder unzählige Noxen, ebenso wie Lebensgewohnheiten und persönliche Einstellungen. Egal was uns krank macht, wenn wir einen achtsamen Umgang mit uns selbst pflegen, werden wir krank machende Einflussfaktoren selbst viel eher erkennen und entgegensteuern können. Wenn wir täglich unserer Gesundheit durch unseren Lebenswandel Gutes tun, werden wir viel weniger anfällig werden für Krankheit.

Die Zukunft der Pflege, genauso wie die Zukunft der Schulmedizin sollte in meinen Augen ganz klar bei Gesundheitsförderung, Salutogenese und Hilfe zur Selbsthilfe liegen. Jeder Mensch sollte wieder seine Eigenverantwortung anerkennen. Wie können wir uns ein Leben lang schlecht ernähren, bewegungsarm leben, uns mit Dingen und Menschen beschäftigen, die uns unglücklich machen und dann vom Gesundheitssystem erwarten, dass es uns auffängt und heilt? Jeder Mensch hat es selbst in der Hand, seinen Beitrag zu leisten. Und das Gesundheitssystem beziehungsweise die einzelnen Berufsgruppen können dabei in erster Linie präventiv und gesundheitsfördernd zur Seite stehen, aufklären, beraten und anleiten. Mit solch einer Haltung könnten viele Krankheiten vermieden werden und somit Leid erspart bleiben. Das Gesundheitssystem, könnte entlastet werden und Kosten gespart werden. Es bedarf dabei jedoch der Bereitschaft zur Veränderung! Und diese Veränderung muss in jedem Einzelnen stattfinden. Einerseits beim Patienten, der selbst die Verantwortung für sich und seine Gesundheit übernimmt und dies auch selbstsicher kann, weil er das entsprechende Gesundheitsbewusstsein und Knowhow entwickelt hat. Dies entsprechend zu entwickeln und zu fördern, sollte bereits bei den Kleinsten beginnen. Auf der anderen Seite muss für diese notwendige Veränderung auch das Gesundheitspersonal bereit dafür sein. Die Ärzte können nicht mehr jegliche Verantwortung abnehmen und behaupten, sie hätten für alles die Lösung. Dafür ist der Ärztemangel zu groß. Und die Pflege kann nicht mehr kompensieren, der Pflegenotstand ist zu weit fortgeschritten. Die Politik ist ebenso gefordert, diese Veränderungen zuzulassen und zu unterstützen. Es braucht neue Denkweisen und neue Herangehensweisen. Es braucht mehr echtes MITEINANDER, mehr Zusammenhalt, mehr Menschlichkeit.

Und wir – als Berufsgruppe der pflegenden und helfenden Berufe – müssen uns endlich wieder unseres Wertes bewusst werden! Denn nur wenn wir erkennen, wie wertvoll wir sind – jede:r Einzelne von uns – kann sich auch etwas verändern. Es wird durch den Pflegenotstand allmählich auch für die „breite Masse“ immer mehr ersichtlich, was es heißt, wenn wir nicht mehr da sind. Es wird langsam klar, was unsere Berufsgruppe geleistet hat und weiterhin tagtäglich leistet.

Doch nun sind wir an der Reihe! Wir müssen selbst – jede und jeder für sich und wir alle zusammen – endlich erkennen, wie wertvoll wir als Menschen sowie in unserer Berufung sind! Einmal innezuhalten und zu überlegen, in wie vielen Momenten in unserem Berufsalltag wir anderen Menschen helfen konnten, sie unterstützt haben und fördern konnten, ihr Leid gemindert und sie bestärkt haben. Wir müssen wieder an die schönen Seiten unseres Berufes denken und uns daran zurückerinnern, warum wir ihn gewählt haben (oder er uns?). Und aus diesem Wissen heraus wird auf einmal ganz klar, wo es hin gehen soll.

Meine persönliche Vision über die Zukunft der Pflege ist teilweise sehr klar erkennbar. Andere Teile sind in weiter Ferne am Horizont nur verschwommen wahrnehmbar. Was ich für mich klar erkenne: ich möchte Zeit haben, um auf den Menschen, den ich gerade begleite, eingehen zu können. Ich möchte ihm mehr meiner Aufmerksamkeit und Zeit zukommen lassen, wenn er es braucht und mich zurücknehmen, wenn er es nicht (mehr) braucht. Ich möchte Gesundheit fördern und bewahren, im Wissen, dass dies kein statischer Zustand ist, sondern ein dynamischer, sich ständig wandelnder Prozess. Gesundheit, wie das Leben an sich, ist von der Veränderung geprägt und bleibt somit veränderbar. Ich möchte präventiv tätig sein, im Wissen, dass nicht jedes Ereignis verhinderbar ist. Ich möchte Gesundheitsbewusstsein schaffen, im Wissen, dass keiner von uns je „ausgelernt“ haben wird und wir gegenseitig voneinander profitieren können.

Ich bin davon überzeugt, dass unsere Berufsgruppe eine enorme Kraft in sich trägt. Doch sie muss sich dieser selbst zuerst bewusst werden. Und aus dieser Kraft heraus, können wir vielen Herausforderungen trotzen. Wir können gegenseitig von unserem Wissen und unseren Erfahrungen profitieren, im Austausch und der Vernetzung – zum Wohle der Menschen, die wir pflegen. Deshalb trägt unsere Berufsgruppe in meiner Vision auch die Bezeichnung der „Gesundheitspflege der Neuzeit“.

Wir können heute das Morgen gestalten. Wir haben es in der Hand, ob wir von anderen erwarten, dass sie die bestehenden Probleme lösen oder, ob wir mutig mit anpacken, im Wissen, dass es Risiken gibt. Das Leben birgt immer Risiken, erst das macht es menschlich. Ich glaube aber fest daran, dass am Ende unseres menschlichen Daseins, wir uns lieber an die Momente zurückerinnern, in denen wir Fehler machen durften, um zu lernen, als an die Momente, in denen wir in uns selbst und in unserem Leid gefangen waren. Ich möchte mit 90 Jahren sagen können: „Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um den nächsten Generationen die Welt in bestmöglichem Zustand „zu übergeben“. Ich möchte auch meine imaginären Enkel in guter und vor allem menschlicher gesundheitlicher Versorgung wissen, auch wenn ich heute gewiss noch nicht weiß, wie diese aussehen wird. Ich weiß jedoch mit Gewissheit, wenn wir JETZT nicht wirklich alle zusammenhalten, daran arbeiten, an uns glauben und auf das Gute im Leben vertrauen, es für keinen von uns so sein wird, wie wir es uns wünschen und erhoffen.

Deshalb lassen wir unsere Wut, unseren Frust aber vor allem unsere Ängste hinter uns und blicken zusammen mutig in die Zukunft!  Wir müssen aufhören mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen. Sie alle bringen uns nicht weiter. Und schlussendlich ist es völlig irrelevant, wer „Schuld“ an der aktuellen Problematik haben könnte. Viele verschiedene Ereignisse, Handlungen, Umstände und Gegebenheiten hatten Einfluss darauf, dass die Situation heute so ist, wie sie ist. Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Es geht viel mehr darum, Verantwortung für sich selbst, sein eigenes Handeln und sein Leben zu übernehmen. Dies müssen wir alle für uns selbst machen, dieser Prozess kann uns niemand abnehmen. Erst dann ist ein wahres Lernen aus der Vergangenheit möglich und der erste Schritt in die Zukunft gemacht.

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